Freitag, 16. November 2012

Sprachtherapeut rettet König

Deutschsprachige Erstaufführung von "The King's Speech" im St. Pauli Theater

Beinahe ist es wie beim Afternoon Tea der Royals, in der Wohnhalle des Hotels "Vier Jahreszeiten". Mit dem feinen, wappengeschmückten Porzellan, den verschiedenen Teesorten und Etageren mit englisch anmutenden Köstlichkeiten wie Scones mit Clotted Cream oder Sandwiches, später darf es auch ein Prince-of-Wales-Cocktail sein, stilecht im Silberbecher serviert. So sind die standesgemäßen Voraussetzungen bestens, um mit Regisseur Michael Bogdanov und den Hauptdarstellern Susanne Schäfer, Marcus Bluhm und Boris Aljinovic zu plaudern - über David Seidlers Stück "The King's Speech" (Die Rede des Königs). Am Dienstag, dem 20. November, erfährt das Drama um den stotternden König Georg VI. seine deutsche Erstaufführung am St. Pauli Theater.

Seit der Film "The King's Speech" im vergangenen Jahr zu vierfachen Oscar-Ehren kam, sind viele bisher Unwissende mit der jüngsten englischen Geschichte etwas besser vertraut. Sie erfahren, dass der Vater der jetzigen Königin Elizabeth I. von früher Jugend an ein Stotterer war, sie erleben, wie er mithilfe des Sprachtherapeuten Lionel Logue sein Handicap nicht überwindet, damit aber umzugehen lernt. Sie lassen sich von der Liebesgeschichte zwischen Bertie, später Georg VI., und dessen Ehefrau Elizabeth, der "Queen Mum", rühren, und sie durchleiden mit Bertie dessen Qualen, den englischen Thron besteigen zu müssen. Alles historisch gesichert und von Seidler fast korrekt, wenn auch im Zeitraffer und mit einigen Freiheiten versehen, erzählt als glänzendes Well Made Play mit Tiefgang.

Nach diesem Stück, das auf Bitten von Queen Mum zu deren Lebzeiten nicht aufgeführt werden sollte, ist der Film entstanden. Nicht umgekehrt. "Es macht im Stück den Eindruck, als geschehe alles binnen eines halben Jahres, tatsächlich aber haben der König und Logue zwölf Jahre miteinander gearbeitet", korrigiert Bogdanov, der bestens mit dem Königshaus vertraut ist. Selbst wenn er natürlich darauf besteht, Waliser und kein Engländer zu sein: "Wir Waliser entscheiden aus dem Bauch heraus, während die Engländer Kopfmenschen sind." Der Regisseur hat die englische Königin vier Mal im persönlichen Gespräch getroffen, und er ist mit der Monarchie aufgewachsen. "Das war meine Kindheit. Ich erinnere mich genau an die Weihnachtsansprachen von Georg VI. um 15 Uhr im Radio und all die Rituale und Messages", sagt der 73-Jährige voller Sympathie über den König wider Willen, der schüchtern, ehrlich und geradlinig gewesen sei. Er habe eine fürchterliche Jugend gehabt und später als König "einen richtig guten Job gemacht".

Marcus Bluhm als Georg VI. sieht das ähnlich und will die Menschwerdung eines Mannes zeigen, dessen Stottern zum existenziellen Problem wurde - in Hinblick auf die öffentliche Aufgabe, die er zu erfüllen hatte. "Ich will die Tragik dieser Figur zeigen, die liebt, kämpft und ihre Pflicht erfüllt. Wenn er vor dem Mikrofon stand, muss es jedes Mal wie eine Hinrichtung gewesen sein", ahnt Bluhm, der versucht, "Nuancen im Stottern" zu verdeutlichen und den König nicht der Lächerlichkeit preiszugeben.

Wohingegen Boris Aljinovic als Logue zunächst sehr genau zwischen historischer Wahrheit und Fiktion unterscheidet, bevor er über Emotionen spricht. Auch er lässt sich vom Film nicht einschüchtern: "Da ist zwar die gleiche Vorlage, aber ich versuche, zu vergessen und mit dem Material umzugehen, was ich vorfinde." Genauso hält es Susanne Schäfer, die bemüht ist, die Balance zu finden "zwischen dem höfischen Benehmen einer Königin, ihrer ziemlich toughen Entschlossenheit und ihrer Liebe zu Bertie".

Monika Nellissen
Die Welt, 16.11.2012